Vorwort:

 

Es kostete mich erhebliche Überwindung dieses Erlebnis hier niederzuschreiben und noch mehr es auch zu veröffentlichen und mich so möglicherweise Vorwürfen ausgesetzt zu sehen. Die Scham sitzt nach wie vor tief und meine Verwirrung über mein eigenes Verhalten ebenso. Ich kann nur darum bitten mich nicht vorweg zu verurteilen.

Dieses Erlebnis ist sicherlich triggernd, ich bitte also um einen selbstverantwortlichen Umgang damit.

Blut, überall Blut

Mit 18 war ich glücklich vergeben an eine Clique verrückter schwarztragender Menschen. Sie ersetzten mir die Familie. Da war ein harter Kern von 6 oder 7 jungen Leuten und schätzungsweise 20 weiteren, die kamen und gingen, und über deren Anwesenheit man sich schlicht freute, wenn man in ihren Genuss kam. Vom störrischen Emo, über den Supermackergoth bis hin zum langhaarigen Witzbold hatten wir alles dabei – und die meisten von ihnen hatten ein Päckchen zu tragen. Sie hinterfragten, was andere als gegeben hinnahmen und blickten über den Tellerrand hinaus – hier fühlte ich mich wie Zuhause mit meinem eigenen Päckchen.

Unsere Freitagabende verbrachten wir mit Vorliebe bei einem Bier in unserem Lieblingspub bei lauter Schrammelmusik bis in die frühen Morgenstunden. Zu der Zeit lebte ich aus, was in mir so aufploppte. Lust auf Schmerz und Dominanz? Kein Problem, der Typ da in der Ecke sieht gut aus und ist für seine Fesselspielchen bekannt… Lust auf einen Dreier oder Knutschen mit der überzeugten Hete? Eine Herausforderung und alsbald ein Gewinn. Ich hatte unvergesslichen Spaß und vergaß darüber Zwänge und Schatten.

Diese Geschichte hier beginnt an einem solchen Abend im Pub. Wir hatten es als Treffpunkt verabredet, um im Laufe des Abends zu einer Privatparty umzuziehen.

Von hier aus wollten wir aufgewärmt zu Corinna. Corinna war die neuste »Errungenschaft« von Lea. Ein süßes introvertiertes Mädchen, dessen scheuer Blick aus großen Augen mich neugierig machte. Aus Anstand hatte ich keinen Annäherungsversuch gewagt. Lea war zwar nicht best friends mit dem Rest der Clique, aber nichts rechtfertigte, dass ich diese moralische Grenze überschritt und mich Corinna auf eine Weise näherte, die Lea für sich beabsichtigte. Ich hielt mich an mein Pärchen, mit dem ich keine Woche zuvor recht intim geworden war. Sie genoss die weibliche Zuwendung, ihm schwoll die Brust wie ein Hahn. Nach einer Stunde quetschten wir uns in den Corolla von Corinna. Im jugendlichen Leichtsinn saß letztlich eine von uns im Kofferraum. Zu siebt (!) fuhren wir zum Elternhaus Corinnas. Und auch wenn sie oft betrübt aussah und ihre Narben uns nicht verborgen geblieben waren, löste sich Corinnas Stimmung in unserer Gegenwart.

Lea hatte sie erst wenige Wochen zuvor vorgestellt. Sie saß oft ruhig dabei und reagierte vornehmlich dann, wenn man sie direkt ansprach, beteiligte sich sonst aber wenig. Lea schien das nichts auszumachen, sie fuhr in ihren Avancen fort.

Bei Corinna angekommen bevölkerten wir bald darauf ihr Schlafzimmer, das gemütlich hergerichtet war mit Kissen und gedämpftem Licht. Musik quoll aus den Boxen und traf mit seinem düsteren Element unseren Geschmack. Den Großteils des Abends verbrachte ich anschließend damit laut zu lachen, wild zu flirten, zu tanzen und zu entspannen. Meine Aufmerksamkeit galt meinem Pärchen, das mich gerne in seine Runde aufnahm. Bier und klebrige Cocktails besorgten den Rest.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Lea mit bleicher Miene ins Schlafzimmer gestürzt kam und entsetzt gegen die Musik anschrie, hatte ich nicht recht mitbekommen, was sie und Corinna in ihrer Ecke getrieben hatten. Eine andere drehte die Musik leiser, damit man sie verstehen konnte. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ihre Körpersprach sprach Bände. Etwas war gar nicht in Ordnung.

»Cori hat sich im Bad eingesperrt! Ich weiß nicht, was sie da drin tut!«, presste Lea hervor. 

»Was ist passiert!?«, zischte ich mit finsterem Blick, als ich an Lea vorbei in den Flur ging und das Bad ansteuerte. Meine Vermutung war, dass sich ihre Avancen von reiner Wortklauberei zu einem Übergriff gesteigert hatten. Dass sie eine Grenze ›übersehen‹ hatte und sich Corinna, in die Ecke gedrängt gefühlt, geflüchtet war. Aufgewühlt durch den Alkohol und in einer offenbar labilen Verfassung, hatte sie sich selbst als Opfer wahrgenommen und das erste getan, das ihr einfiel, um damit klarzukommen…

Vor dem Bad klopfte ich leise gegen die Tür, ich konnte nichts hören. Die anderen waren mir nachgefolgt, drängten sich in dem kleinen Flur und sahen mich mit großen Augen an.

»Hey, Corinna. Ich bin hier. Magst du mir öffnen? Alles ist gut, niemand macht dir einen Vorwurf. Ich mache mir Sorgen um dich. Öffnest du mir bitte die Tür? Ich schicke die anderen zurück, wenn du magst. Alles ist gut.«, betete ich in ruhiger Stimme herunter. Ich wollte sie mit diesem Singsang beruhigen, ihr zeigen, dass es keinen Grund gab noch weiterzugehen. Niemand wusste so recht, wie weit sie vielleicht schon gegangen war. Mein Pärchen war drauf und dran die Polizei zu rufen, als Cori die Tür einen Spaltbreit öffnete, mich nicht ansah, aber gebrochen flüsternd verlangte, dass alle gingen außer mir. Ich zögerte keine Sekunde ihre Bitte zu erfüllen, wunderte mich nur darüber, dass sie ausgerechnet mich hier behalten wollte. Ich hatte mich darauf eingestellt, den Krankenwagen rufen und sie dann in Ruhe lassen zu müssen.

Nachdem ich alle mehr oder minder aus diesem mir selbst vollkommen fremden Haus geworfen hatte, was sie wenig amüsiert hinnahmen und mich auch spüren ließen, rannte ich wieder hoch. Das hatte keine 3 Minuten gedauert. Jetzt stand ich wieder vor der Tür, sammelte mich und betrat das kleine Badezimmer.

Mir stockte der Atem.

Blut, überall war Blut. Der Boden vor dem Wachbecken war voll davon. Sie hatte ihren Arm versteckt, als sie mir geöffnet hatte und erst jetzt wurde mir das Ausmaß der Lage bewusst. Ich betrat das Zimmerchen, kniete mich neben sie auf den Boden, aber meine Konzentration war dahin. Sie saß als jämmerliches Häufchen Elend auf den weißen Fliesen, starrte auf ihr eigenes Blut und hatte die Klinge noch in der Hand. Eine Rasierklinge, ausgerechnet. Der Alkohol besorgte den Rest, das Blut war dünn, als es aus ihrem Arm floss.

Ich kam ihr nahe, sah sie nicht an. Ich wollte sie nur spüren lassen, dass ich da war und dass ich sie mitsamt ihrem Schatten annahm. Dann griff ich nach ihrer Hand, entwand ihr die Klinge und legte sie weg. Ich begann damit, mittlerweile selbst völlig konfus, das Blut zumindest ein wenig mit Papier wegzuwischen. Es war aussichtslos und töricht, also ließ ich es bleiben und zog sie stattdessen am Oberarm und mit bestimmenden Worten ins Schlafzimmer. Immer wieder murmelte sie, dass sie nicht wollte, dass ich einen Krankenwagen rief. Aber die Tiefe ihrer Schnitte und das viele Blut beunruhigten mich. Ich setzt sie auf die Matratze, auf der ich noch vor 20 Minuten mit Katja geknutscht und gelacht hatte. Die Stille klingelte mir in den Ohren.

Corinna saß einfach da, mit roten Wangen und tränenverschleiertem Blick – und ich konnte ihren Schmerz spüren. Sie hatte eine Wunde zugefügt bekommen, deren Spiegelbild die Narben auf ihrem Körper waren. Ich spürte die weiche Matratze unter mir, ich roch ihr Shampoo und das Blut… und dann tat ich etwas, für das ich mich bis heute wahnsinnig schäme. Ich nahm ihren blutüberströmten Arm und leckte darüber. Ich schmeckte das Blut, das nach wie vor in kleinen Rinnsalen ihren Körper verließ und etwas in meiner Brust ging weit auf.

»Was tust du da?«, flüsterte sie mit angespannter Stimme. Und ich sah sie nicht an, sondern nur den Arm, ich spüre bis heute – und auch dafür schäme ich mich bitterlich – innere dunkle Ruhe, als sei ich eingehüllt in eine warme Decke und als verstummten die Geräusche der Welt zu einem Gemurmel.

Ich rückte zu ihr auf, nahm sie in den Arm und atmete tief durch. Mir wurde bewusst, was ich gerade getan hatte und mir brach das Herz. Ich verdrängte das Gefühl und fing erneut an sie überzeugen zu wollen einen Arzt zu rufen.

»Wir müssen einen Krankenwagen rufen, es sieht schlimm aus. Bitte lass mich das tun. Ich begleite dich…«

Und endlich bröckelte ihr Widerstand.

Ich rief den Krankenwagen, säuberte ihren Arm bis dieser ankam, packte ihre Tasche und bugsierte sie dann aus dem Haus in den Wagen, erleichtert, das mir jemand einen Teil der Verantwortung abnehmen würde.

Der Rest der Nacht verschwimmt zu einem mir nicht mehr ganz klaren Bild. Der Ablauf einiger Szenen danach scheint keiner festen Reihenfolge zu gehorchen. Meine Mutter kam, um mich abzuholen. Ihre Eltern waren zwischenzeitlich nach Hause gekommen und beichteten regelrecht zu den Vorwürfen, die ihre eigene Tochter ihnen machte, meine Mutter war sprachlos und schließlich fand ich mich Zuhause wieder, unendlich müde und verwirrt. Meine Mutter hatte sich geweigert mich ins Krankenhaus zu fahren, ich hatte Corinna im Stich gelassen…

Meiner Clique wand ich kurz darauf den Rücken zu. Sie machten mir Vorwürfe sie rausgeschmissen zu haben und ich konnte nicht über das reden, was tatsächlich passiert war.

Von Corinna hörte ich nie wieder etwas, sie reagierte nicht auf meine Nachrichten. Lea war ebenso vom Erdboden verschluckt.

Was war da nur passiert? Und was um Himmels Willen hatte ich da getan?

Viele Jahre später hörte ich von Bekannten, dass Corinna mittlerweile in ein anderes Bundesland gezogen war, ihre Schule beendet hatte und einem Job nachging.

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Nachwort:

Diese Erinnerung wurde lange Zeit von mir verdrängt, zumindest in ihren Einzelheiten. Erst mit der Zeit traute ich mir zu sie wieder hervorzuholen. Mit meinem immer wieder aufwallenden Verlangen nach Blut begann ich schließlich eine offensichtliche Verbindung zu diesem Erlebnis zu knüpfen. Hatte ich ein Trauma erlitten und daher diesen Durst? War es schlichtweg eine unbewusste Weise damit zu dealen, eine psychische Störung?

Warum aber hatte ich das überhaupt getan? War da eine vampyrische Verhaltensweise, die bereits angelegt war und mich überhaupt erst diese genau genommen unheimlich dumme Sache tun ließ? 

Wollte ich einfach Nähe aufbauen? Ihr zeigen, dass es in Ordnung war verwundet zu sein und dass ich nicht zögerte sie mitsamt ihrem Schatten anzunehmen?

Ich rätsele bis heute darüber.